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Brandenburg Sonntag, 05. November 2000

Kämpfen um ein Leben in Deutschland

David Alekseenko (22) aus Grosny: Wochenlanger Hungerstreik gegen die Abschiebehaft

Von Heike Kowitz

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«Mir wurde klar, dass ich nur im Glauben einen Sinn für mein Leben finden werde.» David Alekseenko will seine traurige Kindheit vergessen.

Foto: Fromm

Potsdam - 38 Tage hatte er nichts gegessen, 15 Kilo abgenommen. Im spärlich eingerichteten Aufenthaltsraum des Jesuiten Flüchtlingsdienstes in Charlottenburg begegnet uns wider Erwarten kein Geschwächter, Gebrochener. Sein Händedruck ist kraftvoll, sein Lachen zuversichtlich. David Alekseenko hat einen selbstzerstörerischen Kampf geführt, um seine Freiheit wieder zu gewinnen. «Frei zu sein war mir immer das Wichtigste», sagt er und lächelt zufrieden.

Im August 1999 kam der heute 22-Jährige von Russland über Polen nach Deutschland. Die meiste Zeit verbrachte er in Abschiebehaft in Berlin-Köpenick und - durch einen fatalen Irrtum - in Eisenhüttenstadt. Aus Verzweiflung trat er in den Hungerstreik. Um diesen zu «brechen», wurde er im September zweimal in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie in Frankfurt (O.) eingewiesen. Seit wenigen Tagen ist er frei und wartet auf seine Abschiebung.

Er zeigt uns ein amtliches Dokument, aus dem hervorgeht, dass er sich bis 9. November 2000 in Deutschland aufhalten kann. Seine Betreuer rechnen mit einer Verlängerung der Duldung. Doch irgendwann - früher oder später - wird es zu seiner Abschiebung kommen. Andere mit dieser völlig unklaren Perspektive wären verbittert. Der junge Russe strahlt Zuversicht aus, obwohl der Verlauf seines Lebens dazu bislang keinen Anlass gab.

Am 2. Februar 1978 wurde Alekseenko im tschetschenischen Grosny geboren - auch das steht auf dem grünen amtlichen Papier. Seine Eltern seien Alkoholiker gewesen, er habe sie niemals arbeiten sehen, beginnt er seine Lebensgeschichte zu erzählen. «Wenn ich an mein Zuhause denke, fallen mir nur Saufgelage und Schlägereien ein», sagt er in sachlichem Tonfall. Er hat einen Kindergarten besucht, in der Grundschule Lesen und Schreiben gelernt. «Doch ab der vierten Klasse hat es nicht mehr funktioniert. Meine Eltern hätten mir Hefte kaufen müssen und haben es nicht getan.»

Der erst Zehnjährige kehrte Elternhaus und Schule den Rücken und schloss sich einer Straßenbande an. «Wir sind in ganz Russland umhergereist und klauten auf den Märkten. Die Ältesten haben für Wohnung und Essen gesorgt», erinnert er sich. Im Alter von 16 Jahren habe er angefangen, sein Leben in Frage zu stellen. Aus einem inneren Antrieb heraus suchte er Kontakt zu den Kirchenältesten, überall dort, wo er sich gerade aufhielt. «Mir wurde klar, dass ich nur im Glauben einen Sinn für mein Leben finden werde», sagt der 22-Jährige, der um vieles reifer wirkt als Gleichaltrige. Auch sei ihm bewusst geworden, dass er bei seinen Diebeszügen früher oder später erwischt wird. «Gefangen zu sein ist das Schrecklichste.»

Hals über Kopf setzte er sich von seiner Jugendbande ab. Sein Traum von einem «bescheidenen Leben» versuchte der 16-Jährige in Moskau zu verwirklichen. Vier Jahre lang arbeitete er als Hilfsarbeiter auf Baustellen. Mit dem ehrlich verdienten Geld, wie er betont, reiste er in Klöster, um religiösen Halt zu finden.

Dann eskalierte der Tschetschenien-Konflikt erneut, viele seiner Freunde wurden einberufen. «Vier Freunde sind gefallen. Ich hatte Angst», erinnert sich David Alekseenko. Irgendwann wurden in Moskau alle Wohnungen durchsucht und allen Kaukasiern das Bleiberecht abgesprochen. «Wo sollte ich hin? Meine Eltern haben mich nicht vermisst», sagt er mit verlorenem Blick. Einige Bekannte hätten ihm geraten, nach Deutschland zu flüchten, um dort Asyl zu beantragen.

Der junge Mann nahm einen Zug nach Polen. In einem polnischen Kleintransporter - versteckt unter Taschen - ließ er sich nach Görlitz schleusen. Drei Tage dauerte seine Reise von Moskau nach Deutschland. Drei Tage höllischer Angst. Ohne Gepäck stieg er aus dem Auto aus. Bei sich hatte er nur einen Zettel mit der Adresse einer Kreuzberger Kirche. «In der versammeln sich alle Russen», hatte man ihm gesagt. Wie erwartet, wurde dem Flüchtling geholfen.

Politisches Asyl habe er erst Wochen später beantragt, nachdem er bei einer Polizeikontrolle ohne Personaldokumente erwischt worden sei. Innerhalb von nur zwei Wochen sei sein Antrag abgelehnt worden, sagt der Russe, der kein Deutsch spricht. Er kam in die Abschiebehaftanstalt Köpenick. Einen Pass habe er nie besessen, beteuert er bis heute. Da ohne Personaldokumente eine Abschiebung nicht erfolgen kann, wartete er vier Monate in der Haftanstalt. Im russischen Konsulat erfuhr er, dass in den Archiven in Grosny nicht gearbeitet wird und seine Herkunft nicht belegt werden kann. Zwei weitere Monate verbrachte er in Haft. Schließlich wurde ihm eine Grenzübertrittsbescheinigung ausgestellt mit der Auflage, sich regelmäßig bei der Ausländerbehörde zu melden. «In den ersten vier Wochen hatte ich gar kein Geld. Dann bekam ich monatlich 20 Mark vom Sozialamt », sagt er.

Um zu Geld zu kommen, arbeitete er illegal auf Baustellen - auch in Potsdam. Er wusste zwar, dass er sich nur in Berlin und einem 30-Kilometer-Umkreis aufhalten darf. Doch da das ABC-Ticket der BVG bis Potsdam gilt, dachte er, sich noch auf «erlaubtem Territorium» zu befinden. Ein fataler Irrtum: An einer Bushaltestelle wurde er von der Polizei kontrolliert. Erneut kam er vor einen Richter, der die Einweisung in die Abschiebehaftanstalt Eisenhüttenstadt veranlasste. Im Gerichtssaal erklärte er schriftlich, er werde in den Hungerstreik treten: «Ich hatte keine andere Wahl, gegen meine erneute Inhaftierung zu protestieren.»

Zwei Wochen lang verweigerte er die Nahrungsaufnahme, bis er in Ohnmacht fiel. Bis zu dem Zeitpunkt habe sich kein Arzt um ihn gekümmert. Die Ärzte im Eisenhüttenstädter Krankenhaus hätten versucht, ihn zum Essen zu überreden, er blieb hartnäckig. Er kann nur vermuten, wer seine Einweisung in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie veranlasst hat. Erklärt worden sei ihm nichts, klagt Alekseenko. Seine Anwältin beantragte Akteneinsicht.

Als er die Patienten und die vergitterten Fenster sah, dämmerte ihm, was geschehen ist. Ein Arzt in Frankfurt (O.) versprach: Wenn er essen würde, werde er frei kommen. Sonst werde er künstlich ernährt. Der Russe, der rund um die Uhr einen Polizisten zur Seite hatte, beendete den Hungerstreik. Entgegen dem Versprechen wurde er in Handschellen zurück in die Haftanstalt gebracht. Verzweifelt begann er wieder, die Nahrungsaufnahme zu verweigern und wurde nach einer Woche erneut in die Psychiatrie eingeliefert.

Diesmal empörte sich ein Arzt darüber: Er sei psychisch normal und habe hier nichts zu suchen. Dass er schließlich aus der Abschiebehaft freikam, habe er dem Charlottenburger Seelsorger Norbert Frejek und der Antirassistischen Initiative zu verdanken. Sie machten auf seinen Fall öffentlich aufmerksam, sagt der junge Mann und lächelt dankbar.

   

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